Samstag, 30. Januar 2010

Ein Artikel aus dem "Spiegel",

den ich hier auch unbedingt platzieren muss, auch wenn es etwas mühsam ist, alles zu kopieren. In Johannas Leben spielen solche Dinge nun eben eine große Rolle, da sie plötzlich - es scheint so - nicht mehr so leicht "aussortierbar" wird. Die Fristen, die die Politiker setzten, sind auf etwas 2 - 4 Jahre gedacht, wir werden sehen, wie die Schullandschaft in einigen Jahren aussehen wird.

Aber erstmal die aktuelle Lage:

28. Januar 2010, 14:07 Uhr

Lernen mit Behinderung

"Jedes Kind darf auf eine Regelschule"

Bisher wurden Kinder mit einer Behinderung auf Sonderschulen wegsortiert - auch gegen den Willen der Eltern. Dies soll sich in den nächsten Jahren ändern. Völkerrechtsexperte Eibe Riedel erklärt im Interview, wie sich Eltern schon jetzt für einen Platz an einer Regelschule einsetzen können.

SPIEGEL ONLINE: Herr Professor Riedel, verletzt Deutschland das Völkerrecht, wenn Kinder auf Sonder- oder Förderschulen geschickt werden?

Riedel: Die Uno-Behindertenrechtskonvention geht von einem inklusiven Bildungssystem aus, das grundsätzlich niemanden ausschließt, sondern für alle Kinder offen ist, unabhängig von der Form und dem Grad der Beeinträchtigung. Die Kinder sind also grundsätzlich nicht auf Förder- oder Sonderschulen zu unterrichten, sondern auf Regelschulen gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern. Deutschland ist der Konvention vor einem Jahr beigetreten und dementsprechend verpflichtet, die Vorgaben innerstaatlich auch umzusetzen. Da die Fragen größtenteils der Kulturhoheit der Länder unterliegen, sind die Bundesländer gefordert.

SPIEGEL ONLINE: Was müssen die Bundesländer denn tun?

Riedel: Die Schulgesetze der Länder sind zu ändern oder neu auszulegen: Jedes Kind muss zunächst einen automatischen Zugang zu einer Regelschule bekommen. Gegen den Willen der Eltern dürfen Kinder nur noch zu einer Sonder- oder Förderschule geschickt werden, wenn es anders nicht geht.

SPIEGEL ONLINE: Die meisten Bundesländer aber haben noch nicht viel unternommen. Was können Eltern denn machen, solange die Gesetze nicht verändert sind - nur hoffen und warten?

Riedel: Nein, das ist die zentrale Erkenntnis meines Gutachtens: Auf der Grundlage der Uno-Behindertenrechtskonvention gibt es schon jetzt einen Rechtsanspruch darauf, dass ein Kind grundsätzlich eine Regelschule besuchen kann, wenn die Eltern dies wollen. Diesen Anspruch gibt es seit dem Tag, an dem die Konvention in Deutschland in Kraft getreten ist, also schon seit dem letzten Frühjahr.

SPIEGEL ONLINE: Die Behindertenrechtskonvention ist aber doch nur ein völkerrechtlicher Vertrag. Kann ich mich wirklich unmittelbar vor einem deutschen Gericht darauf berufen?

Riedel: Grundsätzlich bindet die Konvention als völkerrechtlicher Vertrag zunächst nur die Bundesrepublik insgesamt. Allerdings müssen die Länder, die ja dem Vertrag einstimmig zugestimmt haben, die in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden Umsetzungsschritte unternehmen...

SPIEGEL ONLINE: ...was aber bisher noch nicht geschehen ist. Worauf sollen sich behinderte Schüler und ihre Eltern denn nun bereits stützen?

Riedel: Betroffene Schüler und Eltern können sich auf das Grundgesetz stützen mit seinem Diskriminierungsverbot und dem Erziehungsrecht der Eltern. Das Grundgesetz ist völkerrechtsfreundlich auszulegen, selbstverständlich auch von den Bundesländern. Und bei wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten, wie denjenigen aus der Behindertenrechtskonvention, gibt es mittlerweile eine Staatenpraxis, dass sie zumindest in ihrem Kernbereich des Diskriminierungsschutzes vor nationalen Gerichten direkt geltend gemacht werden können. Aus der Konvention ergibt sich ein sogar ausdrücklich garantiertes Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zu einem inklusiven Schulsystem. Jedes Kind hat dementsprechend erst einmal einen Anspruch darauf, eine Regelschule zu besuchen.

SPIEGEL ONLINE: Solche völkerrechtlichen Versprechungen sind nach gängigem Verständnis nicht sofort zu erfüllen, sondern nur schrittweise umzusetzen. Die Behindertenrechtskonvention gilt in Deutschland erst seit letztem Jahr. Wie kommen Sie darauf, dass Eltern schon jetzt klagen können?

Riedel: Da muss man sehr genau unterscheiden. Die schrittweise Umsetzung betrifft die Makroebene, also das Schulsystem: Der Staat muss nicht sofort sein ganzes System ändern und die Gesetze neu schreiben, sondern lediglich zügig und zielgerichtet handeln; mir erscheinen etwa zwei bis vier Jahre als eine vernünftige Frist. Davon zu unterscheiden ist die Mikroebene, also der Anspruch des Einzelnen. Im Rahmen des bestehenden Systems können die Eltern verlangen, dass ihrem Kind der Besuch einer Regelschule ermöglicht wird. In völkerrechtsfreundlicher Auslegung des Grundgesetzes müssen die Bundesländer folglich diesen Anspruch im Prinzip schon jetzt anerkennen.

SPIEGEL ONLINE: Was genau dürfen Eltern denn verlangen: nur den Zugang zur normalen Schule oder zusätzlich auch besondere Unterstützung, die ihr Kind benötigt?

Riedel: Der Anspruch zielt nicht nur auf den Zugang zur Schule, sondern geht weiter. Der Staat muss angemessene Vorkehrungen treffen, damit ein Kind an der Schule lernen kann.

SPIEGEL ONLINE: Ist es nicht ein bisschen viel verlangt, wenn für jeden Behinderten an jeder Schule eine gesonderte Lösung gefunden werden muss?

Riedel: Der Staat muss nicht mehr leisten, als er zu leisten imstande ist. Aber er kann keinesfalls einfach darauf verweisen, dass ein Kind ein bisschen mehr Betreuung braucht, und dann behaupten, dass es deshalb auf einer Sonder- oder Förderschule besser aufgehoben wäre. Entgegen der Praxis, wie sie vielfach noch zu beobachten ist, hat also der Besuch einer Regelschule den Vorrang. Nur wenn es unzumutbar ist, dass ein Kind eine solche Schule besucht, müssen sich die Eltern auf eine andere Lösung einlassen.

SPIEGEL ONLINE: Gelten für körperlich Behinderte andere Maßstäbe als für geistig Behinderte?

Riedel: Nein, die Behindertenrechtskonvention unterscheidet grundsätzlich nicht zwischen verschiedenen Formen der Beeinträchtigung. Sie bezieht alle Menschen ein, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben. Auch Menschen mit Lernbehinderungen zählen dazu, sie dürfen nicht anders behandelt werden.

SPIEGEL ONLINE: Was passiert, wenn die Bundesländer die Uno-Vorgaben ignorieren und sich nicht zügig genug bewegen?

Riedel: Die Behindertenrechtskonvention sieht keine Sanktionen auf völkerrechtlicher Ebene vor, und es gibt auch keinen Weltmenschenrechtsgerichthof, vor dem Deutschland zur Rechenschaft gezogen werden könnte. Die Feststellung des Uno-Behindertenrechtsausschusses, dass Deutschland seinen Vertragspflichten nicht nachkommt, hätte aber eine Prangerfunktion, und kein Staat steht gern am Pranger der Staatengemeinschaft. Andere Uno-Vertragsausschüsse, wie etwa derjenige, dem ich angehöre, würden wohl ähnlich vorgehen und im Staatenberichtsverfahren empfehlen, dass Deutschland die erforderlichen Schritte unternimmt, um die Vertragsverletzung zu beseitigen.

Das Interview führte Markus Verbeet


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